How to cope… #2: Bad News, Doomscrolling und das nackte Überleben

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“Only bad news are good news” – “Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten” – ist ein bekannter Leitsatz aus der Medienbranche. Je größer die Katastrophe, desto höher die mediale Aufmerksamkeit. Und schlechte Nachrichten gehen der Welt nie aus. Wir leben schließlich in einer Zeit, in der die Welt unaufhörlich zu brennen scheint. Nun, das mag vergangenen Generationen sicher auch schon so vorgekommen sein, jedoch werden wir im Gegensatz zu ihnen von einem der aufdringlichsten Aufmerksamkeitsmonster verfolgt: Social Media. Und mit ihm kommen… all die schlechten Nachrichten. Schon bereits kurz nach dem Aufstehen, wenn viele von uns zum ersten Mal am Tag noch halb verschlafen das Smartphone in die Hand nehmen, scrollen wir schnell durch einen Feed voller Krieg, Krisen, politischen Skandalen, Hasskommentaren und (zu Recht) apokalyptisch anmutenden Klimaberichten. Und das macht etwas mit uns.

Bad News meint hier aber nicht nur schlechte Nachrichten, sondern vielmehr die Fülle an Meldungen und eine gesamte mediale Struktur, die durch ihren Aufbau unsere Angst und Empörung auch noch systematisch verstärkt. Ronja von Wurmb-Seibel, eine bekannte Journalistin und Politikwissenschaftlerin, benennt klare Kriterien für den Erfolg einer Nachricht – egal ob “gut” oder “schlecht”. Etwas, das in der Nähe (geographisch und kulturell) passiert, ungewöhnlich oder noch nie dagewesen und konfliktgeladen ist, weitreichende Konsequenzen hat, oder Berühmtheiten betrifft, fesselt uns am meisten. Umso mehr bleiben uns nur die allerschlechtesten Nachrichten im Gedächtnis. Die, die uns schocken, oder uns zumindest nachdenklich zurücklassen. Vor allem, wenn sie ganz bewusst an unsere Emotionen appellieren.

Trotzdem scrollen wir weiter, obwohl wir genau wissen, dass es uns nicht guttut. Das bezeichnet man als Doomscrolling. Vielleicht hast du diesen Begriff selbst bereits benutzt, oder ist dir durch deine Social Media-Nutzung bereits bekannt. Doomscrolling bezeichnet das zwanghafte Konsumieren negativer Nachrichten in sozialen Medien, oft bis tief in die Nacht, beim Essen oder so, dass wir alles um uns herum vergessen. Und hier ist die Katastrophe vorprogrammiert: Ein schier unerschöpflicher Strom an negativen Nachrichten trifft auf ein Gehirn, das evolutionär darauf programmiert ist, Gefahren stärker wahrzunehmen als Sicherheit, Freude oder positive Bestärkung.

Warum ist das so? Psychologisch betrachtet ist der sogenannte Negativity Bias ein alter, aber umfangreich erforschter Hut: Negative Informationen aktivieren die Amygdala, das Angstzentrum des Gehirns, intensiver als positive Stimuli den Belohnungskreislauf.

Das Belohnungszentrum des Gehirns
Das Belohnungszentrum des Gehirns (c) Blaues Kreuz München

Diese evolutionäre Schieflage hatte einst Überlebenswert: Wer die Gefahr schneller bemerkte als erfreuliche Dinge, hatte bessere Überlebenschancen. Heute jedoch wird uns diese neuronale Sensibilität zum Verhängnis, da wir uns in einer Informationsumgebung bewegen, die Aufmerksamkeit stark über Angst, Empörung und Polarisierung generiert.

Wenn du eine alarmierende Schlagzeile siehst (und zwar unabhängig davon, ob sie faktisch echt oder fake ist), reagiert dein Körper unmittelbar mit der Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol und Noradrenalin. Diese Substanzen erhöhen Wachsamkeit und Fokus – eine kurzfristige Überlebensreaktion. Auf neurobiologischer Ebene erleben wir beim Doomscrolling also ein komplexes Wechselspiel zwischen Bedrohungs- und Belohnungssystem. An diesem Punkt schämen sich erstaunlich viele Menschen für diese Erstreaktion, wenn sie ein paar Sekunden später bemerken, dass die Meldung ein Fake ist. Wir hören das sehr oft in unseren Workshops. Viele von euch fühlen sich einfach “wie ein Depp”, auf etwas hereingefallen zu sein. Ich kann das verstehen, aber ich kann euch beruhigen: Dazu habt ihr überhaupt keinen Grund! Ihr habt gerade eine völlig normale biologische Reaktion erlebt. Dafür braucht sich niemand schämen. Viel wichtiger ist an dieser Stelle, wie man mit dieser Meldung umgeht. Ob man die Empörungswelle weiter reitet, die Fake News glauben will und sie vielleicht noch kopflos weiter teilt. Oder ob man genau das nicht tut, vielleicht einen eigenen Inhalt dazu verfasst und andere Leute vor der Fake News warnt. Unsere Artikel mit Infos, Tipps und Tricks der Digital- und Medienkompetenz findest du auf unserer Webseite im “Facts Project”

Zurück zum Doomscrolling. Der wiederholte Zugriff auf Nachrichtenseiten oder Feeds, in der Hoffnung, „endlich etwas Gutes“ zu finden, aktiviert das dopaminerge Belohnungssystem. Push-Benachrichtigungen, das rote Instagram-Herz, die rote Notification mit Glocke und perfider weise einer Zahl und das fröhliche, voreingestellte “Pling” der Apps sind nicht umsonst so designt, dass sie genau dieses Belohnungssystem ansprechen und mit jedem Mal einen kleinen Kick auslösen. Sie binden uns an das Medium, wir interagieren mit ihm, wollen mehr von diesem kleinen Kick und holen ihn uns auch regelmäßig ab. Außerdem neigen wir grundsätzlich dazu, aus dem Drang heraus, nichts verpassen zu wollen (“Fear of missing out”), zum medialen Dauerkonsum. Wer nicht aufpasst, gerät schnell in einen Teufelskreis und etwas, das im Allgemeinen als “Social Media Sucht” bezeichnet wird. 

Brain-Overload und Dopamin-Schleife

Wir suchen in diesem Zustand weniger nach Freude, sondern vielmehr nach Bedeutung oder etwas, das unsere Zeit mit Inhalt füllt. Nicht die Meldung, sondern das Scrollen selbst wird zum Belohnungsreiz. Ein Mechanismus, der als incentive salience dt.: Anreizhervorhebung bekannt ist. Wir kennen ihn zum Beispiel aus der Tabakwerbung. Sie wirkt besonders effektiv auf Gelegenheitsraucher*innen und diese fühlen sich eher motiviert, das Produkt aufgrund der Werbung zu kaufen. Aber eben genau diese Gruppe wird gleichzeitig auch von den Schockbildern auf der Verpackung am meisten abgeschreckt. Es kommt zu einer paradoxen Dopamin-Schleife: Zwar fühlen wir uns schlecht, weil wir wissen, dass wir gerade etwas tun, das uns schadet, aber das Verhalten selbst (Rauchen, Scrollen etc.) gibt kurzfristig das Gefühl von Struktur und Kontrolle zurück. Und je länger wir dies bereits tun, je mehr wir uns an diesen Zustand gewöhnen und ihn als normal betrachten, desto schwerer fällt es uns, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Und wenn wir ihn durchbrochen haben, nicht wieder rückfällig zu werden. 

Dieses Hin und Her ist überaus anstrengend und brennt uns aus. Unser Gehirn reagiert auf den permanenten Wechsel zwischen Alarm und Erwartung mit einer Art Übererregung des limbischen Systems. Und das führt zu einem Zustand ständiger Anspannung. Sind wir dem dauerhaft oder langfristig ausgesetzt, kann dies depressive Symptome, Reizbarkeit und kognitive Erschöpfung fördern. Bis hin zur Anhedonie, also der Unfähigkeit, Freude zu empfinden.

Die Medienlandschaft nutzt diese biologischen Muster gezielt aus. Algorithmen sozialer Plattformen sind darauf optimiert, Inhalte mit hoher emotionaler Aktivierung zu verstärken. Eine Studie der Yale University, in der 12,7 Millionen Tweets ausgewertet wurde, zeigte, dass moralisch grenzwertige und empörende Posts in sozialen Netzwerken signifikant häufiger geteilt werden. Es entsteht ein Negative Engagement Loop oder zu Deutsch: negative Rückkopplung. Je stärker der emotionale Ausschlag, desto länger verweilst du auf der Plattform und desto mehr Daten und Werbekontakte entstehen. Der journalistische Begriff „If it bleeds, it leads“ wurde in eine Art algorithmische Architektur verwandelt. Das Ergebnis von dieser Überladung an Negativität ist eine strukturelle Verstärkung von Gefühlen wie Angst, Wut und Ohnmacht und eine erschöpfte Gesellschaft. 

Dies ist nicht auf die Sozialen Medien beschränkt. Auch klassische Nachrichtenformate unterliegen dem Druck, Aufmerksamkeit zu binden und ihre Nachrichten zu monetarisieren. Der Unterschied liegt jedoch u.a. in der Schlagzahl der Meldungen, der mehr oder weniger angewandten journalistischen Sorgfalt und natürlich unseren persönlichen Vorlieben, welche Formate wir konsumieren. Während du früher vielleicht zur Prime Time vor dem Film kurz die Nachrichten im Fernsehen geschaut hast, kann dich dein Smartphone nun sekündlich alarmieren, wenn wieder irgendwo irgendwas passiert. Und wie wir jetzt wissen, ist jede einzelne dieser Push-Nachrichten ein neuronaler Reiz, der uns kickt. Das Problem ist hierbei auch nicht die Information selbst, sondern ihre Dosis, ihre Wiederholung und der Mangel an Pausen, in denen dein Gehirn das Aufgenommene verarbeiten kann. Medienpsychologisch beschreiben wir das als den “Verlust der geistigen Erholungsphase (Cognitive Rest)”.

Wie kann ich meine News/Life-Balance halten?

Wie also mit dieser Masse an schlechten Nachrichten umgehen, ohne in Ignoranz oder völligen Rückzug zu verfallen? Am besten beginnst du mit Achtsamkeit gegenüber deiner eigenen Mediennutzung und persönlichen Ressourcen. Alle unsere Tage haben 24 Stunden. Nicht mehr, nicht weniger. Wichtig ist, zwischen informiert sein und überflutet werden zu unterscheiden. 

Wenn unser autonomes Nervensystem gerade akut (oder sogar dauerhaft) in Alarmbereitschaft ist, kann es helfen, sensorische Ruhepunkte zu schaffen: Stille (wenn du Stadtlärm ausgesetzt bist, helfen Noise Cancelling Kopfhörer oder starke Ohrstöpsel z.B. für Festivals), Natur, (deine) Tiere oder Kinder, Musik, Bewegung. Oder mal kurz ganz bewusst atmen. Wenn gar nichts geht – atmen geht immer. Schließlich müssen wir das sowieso. Diese Reihe wird einen eigenen Artikel zu Ruhe- und Atemtechniken beinhalten, daher möchte ich euch an dieser Stelle nur eine kleine Notfallübung vorstellen, die ihr wirklich immer und überall durchführen könnt. 

Atme vier Sekunden lang tief ein, halte den Atem vier Sekunden, atme acht Sekunden lang aus. Wiederhole das drei- bis fünfmal.

Solche Praktiken aktivieren den Vagusnerv, der für die Rückkehr in den Parasympathikus (den Zustand von Sicherheit und Regeneration) verantwortlich ist. Besonders für Menschen, deren Reizverarbeitung oft intensiver verläuft, kann dieser Ausgleich überaus hilfreich sein.

Tipps und Strategien

Zeitlich begrenzter Nachrichtenkonsum
Setze dir feste Zeitfenster für Nachrichten oder Social Media z.B. eine halbe Stunde morgens oder abends. Vermeide vor allem vor dem Schlafengehen das Scrollen: Cortisol- und Adrenalin­ausschüttung kann den Schlaf stören und damit deine nächtliche Regeneration verhindern. Lass das Smartphone am besten gleich im Wohnzimmer, auf dem Schreibtisch oder an einem anderen Ort, der nicht direkt an dein Bett grenzt. 

Push-Benachrichtigungen ausschalten und Apps nach Wichtigkeit ordnen
Jeder Alarmton aktiviert dein Nervensystem. Mach sie am besten aus und lass nur die durch, die du auch wirklich brauchst. Und zwar wirklich, wirklich. Du kannst Apps auch aus dem Hauptbildschirm entfernen, um nicht der Versuchung zu erliegen, sie aus Gewohnheit zu starten. Viele Menschen entscheiden sich auch, ihre Social Media Accounts von Zeit zu Zeit zu deaktivieren und zu “detoxen”. 

Kurze Atem- und Körpertechniken einbauen
Wenn dein Nervensystem im Alarmmodus ist, braucht es gezielte Gegenspieler. Eine einfache Technik: Atme vier Sekunden lang tief ein, halte den Atem vier Sekunden, atme acht Sekunden lang aus. Wiederhole das drei- bis fünfmal. Ebenso helfen kleine Bewegungspausen: Aufstehen, Fenster öffnen, Schultern kreisen lassen, bewusst Sinne wahrnehmen – der Kontrast zum Scrollen schafft Erholung und erfrischt den Geist.

Feed- und App-Umgestaltung.
Sortiere deine News- und Social Media-Kanäle: Folge Accounts, die sachlich und lösungsorientiert berichten oder lokale Aktivismus-Gestaltung zeigen, statt rein alarmierende Narrative. Reduziere algorithmisch verstärkte Negativ-Spiralen, indem du bewusst Inhalte auswählst, die dich stärken und nicht nur deine Angst aktivieren.

Gemeinsamer Austausch statt einsames Scrollen
Wenn du Nachrichten liest und sie verarbeiten möchtest, tue das am Besten nicht nur allein vor dem Bildschirm. Sprich darüber im Freundeskreis, in aktivistischen oder politischen Gruppen oder überall dort, wo du wohlmeinende und gleichgesinnte Menschen um dich hast. Der Austausch mildert die Isolation, stärkt das Bewusstsein für Filter und Medienstrukturen und stärkt unsere sozialen Strukturen. Forschung zur Resilienz betont die Bedeutung von Gemeinschaft in Krisenzeiten. 

Bewusste Medien- und Selbstfürsorge
Plane regelmäßig medienfreie Zeiten: Stunden oder Tage ohne News, stattdessen Natur, Musik, kreativ-handwerkliche Tätigkeiten. Solche Pausen helfen, dass Körper und Geist sich erholen.

Aktives Engagement statt passivem Konsum
Indem du aus der Rolle der Zuschauer*in heraustrittst und aktiv wirst, reduzierst du das Gefühl von Ohnmacht, das Doomscrolling oft mit sich bringt. Handlung stärkt Selbstwirksamkeit und Selbstwirksamkeit vermindert Stress.

In der nächsten Folge geht es um den Einfluss von gezielten Desinformationskampagnen, Bots und KI-Slop auf unsere Wahrnehmung, unser Weltbild und unsere Meinungsbildung.

Autorin: Giulia Silberberger

Diese Artikelreihe erscheint jeweils am 01. und am 15. eines Monats. 
Bitte beachte, dass wir keine psychologische Betreuung/Beratung oder medizinische Behandlung anbieten. Depressionen, seelische Erkrankungen und tiefgreifendere Sorgen, Nöte und Probleme solltest du immer mit Fachleuten wie z.B. Psychotherapeut*innen besprechen. 

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