Logikhilfen: Von Teekannen und Rasiermessern
In der Wissenschaftstheorie, einem Teilgebiet der Philosophie, werden oft im übertragenen Sinne Rasiermesser verwendet, um Erklärungsmodelle auf Plausibilität zu überprüfen, eventuelle Denkfehler in der Vorüberlegung zu identifizieren und bei mehreren alternativen Erklärungsmodellen den Schluss auf die richtige Erklärung zu vereinfachen. Ebenso werden gedankliche Experimente oder Analogien zur Hilfe genommen, um grundlegende Prinzipien von zum Beispiel Beweisführung und Widerlegung aufzuzeigen.
Dabei werden diese Gedankenmodelle meistens nach ihren Erfindern, die diese Idee zuerst postuliert haben, benannt. Es gibt eine ganze Reihe von Rasiermessern, den “philosophical razors”, wie sie in der Fachliteratur genannt werden. Die gängigsten, bzw. diejenigen, die auch im Alltag eine sinnvolle Anwendung haben, möchten wir hier kurz vorstellen.
Karl Popper (1902–1994), Philosoph und Begründer des sogenannten “kritischen Rationalismus”, hat Anfang des 20. Jahrhunderts das Prinzip der Falsifikation beschrieben. Das klingt jetzt zunächst mal fürchterlich kompliziert, ist es aber gar nicht: Der kritische Rationalismus ist, ganz einfach gesagt, eine Lebenseinstellung, die, um Popper selbst zu zitieren, “zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden”. Und Falsifikation oder Falsifizierung bedeutet einfach “Widerlegung”, ein Gegenbeweis, der eine Theorie widerlegt. Wenn man nämlich, vereinfacht gesagt, eine Theorie überprüfen will, ist es oft einfacher, zu beweisen, dass sie nicht stimmt, als herzuleiten, dass sie stimmt.
Hierzu gibt es ein sehr anschauliches Beispiel mit weißen und schwarzen Schwänen. Wenn jemand eine Behauptung aufstellt, dass alle Schwäne weiß sind, ist es einfacher, durch die Existenz eines schwarzen Schwans zu beweisen, dass dies falsch ist, als umständlich und wahrscheinlich sehr kompliziert herzuleiten, dass es keine schwarzen Schwäne geben kann. Es ist also immer schwieriger und oft sogar unmöglich, die Nichtexistenz von etwas nachzuweisen.
Diesen Grundgedanken hat auch der Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (1872–1970) aufgegriffen, als er seine gedankliche Teekanne in einer Umlaufbahn um die Sonne platzierte.
Russells Teekanne
In seinem Gedankenexperiment beschreibt Russell eine Teekanne, die angeblich zwischen Erde und Mars in einer Umlaufbahn um die Sonne unterwegs ist. Eine ganz normale Teekanne von üblicher Größe, was auch der Punkt ist, weshalb in dem Gedankenspiel als Grundbedingung angenommen ist, dass man sie von der Erde aus mit keinem noch so starken Teleskop sehen kann.
Behauptet jetzt jemand, dass diese Teekanne existiert, liefert aber keinen Beweis, das dies wirklich stimmt, sind wir anderen alle genötigt, dies zu glauben. Auch wenn vielleicht in altertümlichen Texten oder Überlieferungen von so einer Kanne die Rede wäre, würde das, so Russell, immer noch nicht als ein Beweis ausreichen, der für alle nachvollziehbar ist.
Nach einem Beweis für ihre Behauptung gefragt, könnte die Person, die diese aufgestellt hat, natürlich umgekehrt einen Gegenbeweis fordern: “Beweise doch einfach, dass ich falsch liege!”. Und genau da haben wir dann ein Problem: Nämlich das “wie”. Wie soll man eine Nichtexistenz von etwas beweisen, das man nicht beobachten kann?
Selbst wenn ein so starkes Teleskop existieren würde, mit dem man die Teekanne sehen könnte, würde man niemals alle Punkte zwischen Erde und Mars gleichzeitig beobachten können. Ist die Kanne nicht dort, wo man gerade hinsieht, ist sie ja vielleicht schon wieder woanders, sie muss ja ziemlich schnell unterwegs sein, wenn das mit der Umlaufbahn um die Sonne klappen soll.
Wir merken also langsam, dass wir hier mit der Forderung nach Widerlegung nicht wirklich weit kommen. Es muss also von der Gegenseite angegangen werden: Man müsste beweisen, dass die Teekanne wirklich dort unterwegs ist. Es mag natürlich trotzdem sein, dass die Teekanne real ist, aber da es nicht anhand von Beobachtungen oder Fakten beweisbar ist, bleibt es jedoch eine Glaubensfrage. Die Theorie von der kreisenden Teekanne ist also demzufolge nicht unbedingt falsch, aber unwissenschaftlich, da man sie nicht überprüfen kann, bis jemand beispielsweise hinauf fliegt und ein Selfie mit dem Ding macht.
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Hitchens Rasiermesser
Der Journalist und Literaturkritiker Christopher Hitchens (1949–2011) leistete mit seiner Maxime einen entscheidenden Beitrag zur Erkenntnistheorie, einem der Hauptgebiete der Philosophie. Sein Rasiermesser fordert einen Beweis für die aufgestellte Behauptung von der Seite, die diese aufstellt. Bereits ein lateinisches Sprichwort aus dem 19. Jahrhundert stellt fest: “Quod gratis asseritur, gratis negatur.” – “Was grundlos behauptet wird, kann grundlos bestritten werden.” Etwas umgangssprachlicher begegnet einem vielleicht einmal in Diskussionen der Spruch:“Wer behauptet, muss auch liefern”.
Wer also eine Behauptung aufstellt, ist auch in der Pflicht, diese zu begründen. Und dies ist ganz wesentlich für eine fruchtbare Diskussion: Denn wenn in eine Diskussion Argumente oder Behauptungen eingebracht werden, die selbst auf Fehlschlüssen beruhen, also gar nicht korrekt sind, würde das die Sache nicht vereinfachen und die Diskussion würde unsachlich und obendrein sinnlos. Es ist also sinnvoll, ein Argument in dem Moment, in dem es verwendet wird, zu überprüfen, ob es auch valide ist.
Ein Beispiel, was dies verdeutlicht: In einer Diskussion geht es darum, ob man Klopapierollen besser mit dem Abreißende nach vorne oder nach hinten aufhängt. Hier kann man wunderbar argumentieren, dass das Abrollen nach vorne bequemer ist, oder dass das Klopapier andersherum vor Katzen sicherer ist. Diese Argumente sind alle valide, leicht nachvollziehbar und überprüfbar. Wenn jetzt aber jemand in dieser Diskussion mit der Behauptung käme, dass wenn man das Klopapier mit dem Ende nach hinten aufhängt, sich in diesem gesundheitsgefährdende Giftstoffe bilden, dann würde dieses Argument, weil es so gewichtig ist (wer will schon von Klopapier krank werden), die komplette Diskussion sinnlos machen. Wenn es denn wahr wäre.
Und das ist der Punkt: Manche Argumente, wie dieses im Beispiel hier, sind so offensichtlich haltlos oder falsch, dass man nicht weiter überlegen muss. Manche Behauptungen sind aber vielleicht wissenschaftlicher Natur, wo sich nicht jeder im Detail auskennt, und wo man zunächst etwas recherchieren muss, um dieses zu überprüfen.
Idealerweise liefert man daher bei einem Argument die Begründung einfach direkt mit. Es kursieren so viele “urbane Legenden”, so viele Schauergeschichten und Halbwahrheiten oder manchmal komplett falsche Behauptungen, die teilweise noch nicht einmal aus Boshaftigkeit, sondern einfach nur aus Unkenntnis oder falscher Interpretation in die Welt gesetzt wurden, dass es sinnvoll ist, immer genauer hinzusehen.
Hitchens Rasiermesser schneidet also aus einer Diskussion die Behauptungen heraus, die unbelegt sind und damit wahrscheinlich auf falschen Prämissen oder Fehlschlüssen beruhen. Wird ein durch dieses Messer “abrasiertes” Argument im weiteren Verlauf mit einem Beweis gestützt, kann man dieses natürlich wieder in Betracht ziehen. Zunächst aber mal sorgt Hitchens Rasiermesser für eine bessere Übersicht der Argumente.
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Ockhams Rasiermesser
Wir alle kennen das: Irgendetwas passiert, sei es ein Unfall, eine Katastrophe, oder ein beliebiges anderes, unerwartet und spektakuläres Ereignis, und im Netz häufen sich die Theorien und Erklärungsversuche, wie das denn passieren konnte.
Gerade in Verschwörungserzählungen gibt es oft mehrere Versionen der Geschichte, und auch oft eine Vielzahl an vorgeblichen Erklärungen, die sich jedoch manchmal sogar selbst widersprechen.
Genau hier setzt Ockhams Rasiermesser an: Der englische Franziskanermönch und Gelehrte William of Ockham (ca. 1287–1347) beschrieb in seiner Überlegung, dass bei verschiedenen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt, meistens die einfachste Erklärung die richtige ist. Eine Erklärung gilt demzufolge als “einfach”, wenn sie möglichst wenig Variablen und Hypothesen beinhaltet, und diese in einem logischen Zusammenhang stehen. Man kann sein Rasiermesser also auch als eine Art “Sparsamkeitsprinzip” verstehen. Der praktische Vorteil davon ist, dass einfache Theorien, die wenig Vorbedingungen erfordern, leicher falsifizierbar sind, als Erklärungen, die von einer Menge anderer Faktoren abhängen, die man dann auch noch untersuchen muss.
Im Sinne einer effektiven Untersuchung eines Sachverhalts “schneidet” Ockhams Rasiermesser also zunächst alle Erklärungsmodelle ab, die weniger plausibel sind.
Das Rasiermesser kann zwar kein abschließendes Urteil über die Qualität einer Erklärung fällen, jedoch lassen sich unnötige Annahmen zunächst aussondern, man kann sich damit meistens eine Menge Arbeit ersparen.
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Newtons flammendes Laserschwert
Hier schwingt bei der Namensgebung unbestritten eine Portion Humor mit, die Aussage ist jedoch durchaus ernsthaft: “Kann etwas nicht durch Experiment oder Beobachtung entschieden werden, ist es eine Diskussion nicht wert”. Solange man keine Daten oder Fakten vorliegen hat, oder diese durch ein Experiment gewinnen kann, ist es müßig, sich über diese Behauptung Gedanken zu machen, da es keine untersuchbare Grundlage dafür gibt. Es wäre an diesem Punkt wiederum eine Glaubensfrage, ob man die betreffende Behauptung für richtig hält, und damit nicht im wissenschaftlichen Sinne untersuchbar.
Logisch gesehen ist es eine Erweiterung von “Hitchens Rasiermesser” nach dem Journalisten Christopher Hitchens (1949-2011), welches besagt, dass was ohne Beleg behauptet wird, ohne Gegenbeleg verworfen werden kann.
Namensgebend für dieses etwas speziellere Rasiermesser war Isaac Newton (1642–1726), erfunden hat Newton aber das “Laserschwert” natürlich nicht. Mike Alder, ein australischer Mathematiker hat sich von newtonschem Denken inspirieren lassen und dieses Rasiermesser 2004 ein “Laserschwert” genannt, weil es “viel schärfer und gefährlicher als Ockhams Rasiermesser ist”.
Und das ist dieses Laserschwert durchaus: Mike Alder hat sich zu dem philosophischen Rasiermesser selbst wie folgt geäußert: “Während das Newtonsche Beharren darauf, dass jede Aussage durch Beobachtung überprüfbar sein muss […] zweifelsohne den Unsinn ausblendet, scheint es auch fast alles andere auszublenden.”
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Fazit
Es ist also ungemein wichtig, dass man diese Werkzeuge nicht einzeln und blind nach “Schema F” anwendet. All diese Rasiermesser haben ihre Berechtigung, aber sie sind kein Wunderwerkzeug. Sinnvollerweise wendet man sie zusammen an.
Trifft man auf eine Behauptung, ist es vielleicht hilfreich, zu überlegen, ob man diese Behauptung überhaupt beweisen kann, oder ob sich daraus nicht ein logischer Widerspruch zu anderen Aussagen ergibt, die man selbst überprüfen kann. Dann könnte man beispielsweise allzu haarsträubende oder komplexe Erklärungen “abrasieren” und sich auf die Untersuchung von dem beschränken, was man nachprüfen kann. Und Behauptungen, die nicht durch Daten oder Fakten prüfbar sind, kann man beiseite stellen, bis es vielleicht irgendwann diese Daten gibt. Bis dahin hat man sich aber dann schon vielleicht eine Menge Arbeit erspart und ist schon klüger, als wenn man sich von Anfang an um das “unrasierte” Problem gekümmert und sich womöglich in irrelevanten Details verrannt hätte.
Es gibt auch noch eine ganze Reihe weiterer Rasiermesser, von denen manche allerdings durchaus mit einem gewissen Schmunzeln betrachtet werden können, wie beispielsweise “Hanlons Rasiermesser”, welches besagt, dass man nie der Boshaftigkeit zurechnen darf, was durch Dummheit ausreichend erklärt werden kann. Urheber ist wahrscheinlich der Schriftsteller Robert A. Heinlein (1907–1988), da eine solche Äußerung einerseits in einer seiner Novellen vorkommt, und andererseits ein Robert J. Hanlon, der oft als Urheber genannt wird, nirgendwo anders in der Literatur auftaucht.
Eine Liste weiterer philosophischer Rasiermesser findet ihr auf Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rasiermesser_(Philosophie)
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