Das Problem mit dem Wachstum

1657 0

Was wir zu Beginn dieser Pandemie eigentlich alle hätten lernen müssen.

Pandemien kommen – entgegen diversen verschwörungserzählerischen Geschichten – nie geplant. Sie treffen uns, wie man sehen konnte, größtenteils unvorbereitet und stellen Wissenschaft, Politik und die Bevölkerung vor eine riesige Aufgabe, werfen neue Probleme auf und verlangen Lösungen, die niemals jedem einzelnen Individuum gerecht werden können.

Vor allem aber fordern sie den menschlichen Verstand, unser Vermögen, Dinge zu begreifen und gedankliche Transferleistungen zu vollbringen, auf eine nie dagewesene Art und Weise. Nicht umsonst existiert mit der Epidemiologie ein ganz eigenes Fachgebiet der medizinischen Wissenschaft als interdisziplinäre Disziplin, die sich auch auf Erkenntnisse aus anderen Fachdisziplinen wie Tiermedizin, Statistik, Biologie, Soziologie, Psychologie und Informatik stützt. Die Epidemiologie selbst ist neben einer medizinischen Fachdisziplin auch noch eine Teildisziplin der Statistik, da sie, um Ursachen und Wirkungen zu erforschen, statistische Methoden und Maßzahlen nutzt.

Kurz gesagt: Um qualifizierte Aussagen zu einer Epidemie, Pandemie oder Endemie treffen zu können, muss man in diesen Fachgebieten, oder zumindest in einigen davon, sattelfest sein, und wissen, wovon man redet. Dass das nicht bei allen selbsternannten “Expertenstimmen” der Fall ist, ist ein anderes Thema. Aber gehen wir mal davon aus, dass in einem Artikel, einem Facebook-Post oder in einem Tweet wirklich jemand eine Einschätzung veröffentlicht, der Ahnung von all diesen Dingen hat, weil er dies studiert hat, und dass diese Einschätzung auch fundiert und realistisch ist.

Ein konkretes Beispiel, welches gleichzeitig auch noch das Problem aufzeigt, auf das dieser Artikel hinaus will, ist Prof. Dr. Karl Lauterbach, der seit Beginn der Pandemie die Entwicklung mit Kommentaren und fachlichen Einschätzungen begleitet.Was aber daraufhin in den Kommentaren teilweise passiert, spottet jeder Beschreibung. Lauterbach erhält, nicht als einziger, Morddrohungen. Vor allem lässt sich aber aus all dieser unsachlichen Kritik ein Tenor heraushören: Er würde Panik verbreiten. Despektierliche Titulierungen wie “Panik-Kalle” ziehen sich durch quasi alle Kommentarthreads.

Welche Panik?

Was aber, so mag man sich fragen, führt dazu, dass wir die Ausführungen beispielsweise eines Herrn Lauterbachs, die objektiv betrachtet alles andere als Panikmache sind, als solche empfinden? Warum wird aus so vielen Kommentaren ersichtlich, dass die kommentierenden Personen offensichtlich die Kernaussage des Posts überhaupt nicht verstanden haben? Was ist an diesen Einschätzungen so Besonderes, dass so viele Menschen es als Panikmache bezeichnen, auch wenn in diesen teilweise sogar konkrete Lösungsansätze aufgezeigt werden, die eben die dräuende Katastrophe verhindern können?

Ein Grundproblem ist die natürliche und grundlegend menschliche Angst der Menschen vor dem Unbekannten. Vor einer nicht greifbaren, nicht fassbaren Bedrohung. Eine Diskrepanz zwischen dem Gelesenen und der dort in einem Post dargelegten Gefahr und der eigenen gefühlsmäßigen Eindordnung, die diese Gefahr nicht intuitiv erfassen kann, führt dann zu einer Ablehnung, einem Infragestellen und zumindest subtilen Leugnen. Solche Beiträge dann als Panikmache abzutun und dabei noch Zustimmung und emotionale Unterstützung durch viele weitere Kommentare zu erfahren, führt dann unmittelbar zu einer emotionalen Erleichterung, die Nachricht verliert ihren Schrecken, weil sie in letzter Konsequenz damit quasi lächerlich gemacht wurde.

Ein weiteres Grundproblem, was dazu führt, dass diese Gefahr für uns nicht greifbar oder fassbar ist, warum wir sie nicht intuitiv erkennen, ist die Tatsache, dass der menschliche Verstand einfach nicht in der Lage ist, exponentielles Wachstum intuitiv zu erfassen, wie es bei linearem Wachstum der Fall ist.

Lineares Wachstum erleben wir überall im täglichen Leben: Kinder wachsen und altern linear. Haustiere auch, ebenso wie Pflanzen im Garten. Exponentiell wächst aber nichts um uns herum, was wir unmittelbar beobachten können.

Die Froschteich-Fehleinschätzung

Ein kleines Gedankenexperiment dazu mit einem Frosch und einem Seerosenteich: Ein Frosch beobachtet bei seinem Teich, dass dieser mit Seerosen zuwächst. Am ersten Tag ist es eine, am zweiten Tag schon zwei, am dritten Tag vier. Er beschließt, dass er ja noch genügend Zeit hat, bevor er etwas tun sollte, der Teich ist ja schließlich groß. Am zehnten Tag schließlich stellt der Frosch fest, dass der gesamte Teich bedeckt ist. Die Frage ist nun: Wann war der Teich halb bedeckt?

Intuitiv antworten viele Menschen mit “nach fünf Tagen”. Wir stellen diese Frage in unseren Workshops und erleben sehr oft genau diese Reaktion. Der Grund ist ganz einfach: Menschen entscheiden intuitiv auf Basis von Erfahrungen und Maßstäben, die unmittelbar verfügbar sind. Da wir als Menschen mit solchen Entwicklungen im Alltag nicht unmittelbar umgehen müssen, fehlt uns einfach dieses “Bauchgefühl”, die Fähigkeit, dieses ein- und abschätzen zu können – und liegen in diesem Fall völlig falsch. Der Tag, an dem der Teich nämlich nur halb bedeckt war, ist der 9. Tag. Nur einen einzigen Tag vorher.

Viel bedeutsamer in dem Zusammenhang ist die Entwicklung bis dahin: Nur drei Tage zuvor war es nur ⅛ des Teichs, der bedeckt war. In rund ¾ der Zeit, bis für den armen Frosch der “Seerosen-GAU” eingetreten ist, war der Teich zu weniger als 13 % bedeckt. Bis ganz kurz vor der Katastrophe sah alles noch gar nicht so schlimm aus.

Solche gedanklichen Analogien gibt es zu dem Thema verschiedene. Eine der berühmtesten ist die Legende von den Getreidekörnern auf dem Schachbrett. Sissa ibn Dahir, der Legende nach der Erfinder des Schachspiels, soll sich eine Belohnung des Herrschers in Form von Getreide erbeten haben: Für das erste Feld ein Korn, für das zweite zwei, für das dritte vier, und so weiter. Genau wie die Seerosen auf dem Teich.

Rechnen wir das einmal durch, stellen wir nicht nur fest, dass auf den Teich des Frosches genau 512 Seerosen gepasst haben müssen, sondern auch, dass die Summe der Getreidekörner von allen Feldern zusammengenommen rund 730 Mrd. Tonnen, das Tausendfache der weltweiten Getreideernte des Jahres 2014/2015 ergeben haben.

Mit der geometrischen Summenformel

lässt sich eine Gesamtanzahl von 18.446.744.073.709.551.615 Körnern errechnen.

In Worten: 18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend, 615.

Würde man für das Zählen jedes Getreidekorns genau eine Sekunde benötigen, wäre man gut 585 Milliarden Jahre beschäftigt.

Dies ist im wahrsten Sinne des Wortes “mind boggling”, unfassbar groß, und intuitiv für den menschlichen Verstand, der mit solchen Dimensionen nie gelernt hat umzugehen, nicht greifbar.

Wir lesen also eine Meldung, sehen die Zahlen, schauen uns die Kurven an… aber können es nicht als Gefahr wahrnehmen, als warnende Zeichen deuten.

Ein weiteres Beispiel, das die Wucht dieser großen Zahlen veranschaulicht, ist die Überlegung, wie oft man ein ganz normales Blatt Papier falten muss, bis der entstandene Papierstapel bis zum Mond reicht (384.400 km). Abgesehen davon, dass es natürlich rein technisch nicht machbar ist, müsste man ein Papier nur 42 Mal falten, um einen solchen Stapel zu erhalten.

Exponentielles Wachstum muss aber nicht nur bedrohlich wirken, es kann auch ganz einfach faszinierend sein: Aus einer einzigen Zelle wird in 9 Monaten ein ganzer Mensch.

Eine Forschungsarbeit an, die am Center for Law and Economics der ETH Zürich und an der Hochschule Luzern (HSLU) erstellt und im Wissenschaftsjournal “PLOS ONE” veröffentlicht worden ist, geht der Frage nach, ob die Art und Weise, wie die exponentielle Ausbreitung eines Virus dargestellt wird, die systematische Unterschätzung beeinflusst. (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0242839).

Aus anderen Studien ist nämlich bekannt, dass Menschen exponentielles Wachstum selbst dann unterschätzen, wenn ihnen bekannt ist, dass Menschen dieses Problem haben. Es bringt daher wenig, Menschen über ihren “exponential growth bias” aufzuklären, wie die Wissenschaft heute das Schachbrett- oder Seerosen-Problem nennt. Die Informierten liegen mit ihren Schätzungen ebenso daneben wie die anderen.

Ein Lösungsvorschlag aus dieser Publikation ist, beispielsweise von der Verdopplungszeit zu sprechen. Eine Zeitspanne ist für den menschlichen Verstand leichter zu begreifen als eine Wachstumsrate. Über 90 Prozent der Teilnehmenden lagen viel zu tief, wenn sie eine exponentielle Entwicklung der Ansteckungen auf 30 Tage hinaus schätzen mussten. Deutlich zutreffender konnten sie die Fallzahlen schätzen, wenn sie von der Verdoppelungszeit ausgehen konnten.

Umgekehrt trägt diese Eigenheit unseres Gehirn auch zu dem Präventions-Paradoxon bei, das dafür sorgt, dass wir die Schäden nicht sehen, die ausgeblieben sind. Intuitiv können wir niemals einschätzen, wie Maßnahmen gewirkt haben. In der obigen Studie schätzten Menschen in einem Beispiel die Anzahl der geretteten Leben mit 8600 viel zu niedrig ein (richtig: 1 Million), wenn sie auf die Anzahl der Infektionen schauen sollten, jedoch viel besser, wenn sie die Einschätzung auf Basis einer Anzahl der gewonnenen Tage bis zu einer Überlastung des Systems treffen sollten.

Das Bauchgefühl ist ein schlechter Ratgeber

Wir wissen jetzt also, dass man sich in so einer pandemischen Ausnahmesituation nicht auf seine Intuition verlassen kann. Der Mensch ist einfach nicht dafür gebaut, so etwas intuitiv zu bewältigen. Und da ist es doch eigentlich ziemlich cool, dass wir die Wissenschaft haben, die uns dabei hilft, die Beobachtungen einzuordnen, Anzeichen von Gefahren zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Leider werden wissenschaftliche Ratschläge nicht immer so umgesetzt, dass sie ihre volle Wirkung erzielen können. Konkret geht es dabei zum Beispiel darum, dass früher ergriffene Maßnahmen, zu einer Zeit, als es noch vereinzelte Seerosen waren, immer besser gewirkt haben, als Maßnahmen die schon bei fast halb zugewuchertem Teich eingeleitet wurden.

Was wir also eigentlich zu Beginn der Pandemie alle gebraucht hätten, ist ein Crashkurs in Epidemiologie, in Statistik, einfach um die Grundlagen zu legen, die ganzen Informationen, die im Laufe der Pandemie auf uns zukommen, auch einordnen zu können. Und zwar auf Basis eines korrekten, aktuellen Wissens, und nicht nur durch Hörensagen und (manchmal nicht hilfreiche) Medien.

Die Pandemie in der Pandemie

Aktuell machen uns die Mutanten Sorgen. Ein Satz, der ohne Kontext sicherlich schräg klingt, aber eigentlich ganz und gar nicht witzig ist. Die neuen Varianten des Coronavirus haben eine ganz andere Dynamik. Wir haben uns mittlerweile daran “gewöhnt”, wie unser bisheriges SARS-CoV-2 so funktioniert hat. Wir haben Masken getragen, Abstand gehalten, einige mehr, andere weniger effizient. Die Wirtschaft wurde gebremst oder heruntergefahren, Kontaktbeschränkungen, etc. all diese Maßnahmen haben dafür gesorgt, dass wir einigermaßen glimpflich durch den Sommer gekommen sind. Und hätten es bei schärferen oder sinnvolleren Maßnahmen vielleicht auch besser schaffen können.

Aber genau wie es Anfang März immens wichtig war, zu begreifen, wie schnell sich ein Virus verbreiten kann, ist es jetzt umso wichtiger, zu erkennen, dass diese Mutationen als eigenständige, quasi “neue” Viren gesehen werden müssen.

Der Basisreproduktionsfaktor R0 ist ein anderer. Die Maßnahmen, die bei dem “alten” SARS-CoV-2 für Rückgang gesorgt haben, können die neuen Varianten nicht mehr am Wachsen hindern. So baut sich unter den aktuell rückläufigen Zahlen des Urtyps unbemerkt eine weitere Welle der neuen Mutation auf. Bis heute hat der Rückgang der ursprünglichen Virusvariante noch ausgereicht, um das Wachstum der neuen Mutationen zu kaschieren.

Heute meldete das RKI erstmals eine leicht ansteigende Sieben-Tage-Inzidenz (https://www.tagesschau.de/inland/corona-rki-131.html).

“Der Lockdown war stark genug, um die alte Wildtyp-Variante zu verdrängen. Aber die neuen Varianten dehnen sich weiter aus.”, wird Karl Lauterbach in einem Interview mit dem SWR zitiert. Eben genau dieses Problem müssen wir jetzt begreifen, akzeptieren und danach handeln. “Die dritte Welle ist gleichzeitig auch der Beginn einer neuen Pandemie”, warnte Lauterbach weiter.

Und nur wenn sowohl wir als Individuen, als auch die Politik als Entscheidungsträger, dieses Problem auch als ein Problem erkannt haben, die Krise wie eine Krise behandeln, können wir diese auch erfolgreich bewältigen.

Dabei geht es nicht um Panik – diese ist ein noch viel schlechterer Ratgeber als jedes Bauchgefühl. Es geht darum, Gefahren aufzuzeigen, die wir als normale Menschen nicht sehen können, weil wir sie sonst auch nie sehen müssen. Gefahren, die aber da sind, und bei denen man die Warnungen der Wissenschaft ernst nehmen sollte. Krisenprävention sollte immer vom maximal möglichen Schaden ausgehen, der entstehen kann, wenn es darum geht, die Maßnahmen zu bewerten.

“Jeder Katastrophenfilm fängt mit einem Wissenschaftler an, der ignoriert wird.”

Darüber mag man vielleicht schmunzeln, aber eigentlich ist es genau der Kern. Das ist jetzt bei der Pandemie so, und das war auch die Jahrzehnte vorher zum Thema Klimawandel so. Wir haben uns als Menschen so weit entwickelt, dass wir in der Lage sind, solchen Herausforderungen zu begegnen.

Wir müssen es nur entschlossen tun.

Rüdiger Reinhardt