Shifting Baseline

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Der Begriff „Shifting Baseline“ oder auch Shifting Baseline Syndrome (dt.: sich verschiebende Ausgangsbasis) beschreibt ein psychologisches und gesellschaftliches Phänomen, das erklärt, warum Menschen graduelle Veränderungen oft nicht als solche wahrnehmen. Ursprünglich stammt der Ausdruck aus der Meeresbiologie und wird primär im Klima- und Umweltschutz verwendet.

Was ist die Shifting Baseline?

Der Begriff “Shifting Baseline” wurde im Jahr 1995 von Daniel Pauly geprägt, als er die Arbeit von Meeresforschenden und Fischer*innen untersuchte, die zu Beginn ihrer Karriere den jeweiligen/damaligen Fischbestand als direkte Bezugsgröße nahmen. (Pauly 1995) Jede neue Generation nahm Pauly zufolge den Zustand der Meere zu Beginn ihrer Laufbahn als „normal“ wahr, auch wenn die Bestände im Vergleich zu früheren Jahrzehnten bereits stark geschrumpft waren. Die Ausgangsbasis (die „Baseline”) verschob sich also mit jeder Generation nach unten. Dieser Mechanismus führt dazu, dass der tatsächliche Verlust an Biodiversität, Lebensqualität oder Stabilität unterschätzt wird, weil sich der Maßstab unserer Beurteilung langsam, aber stetig verändert. (Rost 2014)

Warum ist die Shifting Baseline gefährlich?

Diese Verschiebung der Wahrnehmung lässt sich auf viele andere Bereiche übertragen. Das Phänomen zeigt sehr gut, wie menschliche Gesellschaften auf Veränderung reagieren, insbesondere auf schleichende Verschlechterungen, die nicht abrupt, sondern in kleinen, scheinbar unbedeutenden Schritten geschehen. Der Prozess der Normalisierung betrifft nicht nur Ökosysteme, sondern auch soziale Normen, politische Werte und unsere kollektive Erinnerung. Wird der Wandel allmählich und kaum spürbar vollzogen, entsteht der Eindruck von Normalität oder es sei “ja gar nicht so schlimm”. Was gestern noch als untragbar galt, erscheint heute als hinnehmbar (vgl. “Overton-Fenster”). 

So kann sich in Demokratien, die sich als stabil verstehen, eine Akzeptanz für autoritäre oder populistische Positionen entwickeln, ohne dass der Bruch mit der demokratischen Kultur sofort erkannt wird. Demokratisch-freiheitliche Grundsätze, Menschenrechte oder Diversität können schrittweise an Selbstverständlichkeit verlieren, wenn sich die gemeinsame Erwartungshaltung verschiebt. Die Verschiebung geschieht dabei oft unbemerkt, weil sie sich in kleinen, emotional und sozial nachvollziehbaren/verdaulichen Dosen vollzieht (vgl. “Mere Exposure Effekt”). 

Diese Dynamik ist ebenfalls eng mit der Art und Weise verbunden, wie sich Gesellschaften erinnern und wie sie kommunizieren. Historisches Wissen, geteilte Erfahrungen und Werte sind keine fixen Größen, sondern werden fortlaufend erweitert und teilweise neu gedacht. Wenn historische Bezüge verloren gehen oder bewusst verzerrt werden, verliert eine Gesellschaft ihren Maßstab für den rationalen Vergleich. 

Was hat die Shifting Baseline mit Desinformation zu tun?

Desinformation nutzt genau diesen Mechanismus: ihre Akteur*innen schaffen gezielt neue Realitäten und Narrative, die abwertend, ausgrenzend oder autoritär gefärbt sind. Es entsteht eine neue “Ausgangsbasis” für den Diskurs. Wenn Medienschaffende oder Politiker*innen immer mehr Begriffe und Narrative öffentlich verwenden, verändert sich damit auch unser sprachliches Koordinatensystem. Wörter wie „Überfremdung“, „Lügenpresse“ oder „Meinungsdiktatur“ waren einst Kennzeichen extremistischer Rhetorik, heute tauchen sie in Teilen der vermeintlich gemäßigten Kommunikation (und vor allem in den Sozialen Medien) auf, oft relativiert durch Humor oder vermeintlich rationale Verpackungen. Die wiederholte und unwidersprochene Konfrontation mit Falschinformationen untergräbt das Vertrauen in verlässliche Quellen und erzeugt den falschen Eindruck, Fakten seien grundsätzlich relativ. Der gesellschaftliche Diskurs verliert dadurch endgültig eine gemeinsame Basis.

Die Gefährdung der Demokratie entsteht selten durch einen plötzlichen Umsturz, sondern durch eine allmähliche Erosion ihrer Werte und Maßstäbe. Wenn Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen als “normal” angesehen werden (selbst wenn wir diesen Zustand beklagen), dann hat sich die Baseline bereits verschoben.

In der Zwischenkriegszeit Europas vollzog sich die Wende zum totalitären Faschismus hin auch nicht in einem Moment, sondern über Jahre hinweg. Schrittweise wurden rechtliche, sprachliche und moralische Grenzen verschoben und gemeinsame Werte erodiert. Pressefreiheit, Gewaltenteilung und Menschenrechte verloren ihre Selbstverständlichkeit, während sich eine neue Normalität der Unterdrückung etablierte. Diese historische Erfahrung sollte uns als Warnung dienen, dass die Verteidigung demokratischer Werte nicht nur juristische, sondern auch kulturelle und kommunikative Wachsamkeit verlangt.

Do's und Don'ts

Do’s:

  • Eigenen Blick verändern: Wie sah die Situation früher (vor X Jahren) aus? Welche Veränderungen sind unbemerkt geblieben, welche können wir klar erkennen?
  • Generationen- und gesellschaftsübergreifende Gespräche fördern, damit Baselines geteilt und reflektiert werden können.
  • Bewusst neue Normalitäten kritisieren und sichtbar machen – etwa durch Fallstudien, Zahlen, Dokumentationen –, um sichtbar zu machen: „Das war früher anders“.
  • Medienkompetenz stärken: Vermitteln, wie Normen, Werte und Maßstäbe sich verändern – und wie Desinformation diese Prozesse ausnutzen kann.

Don’ts:

  • Nicht einfach den aktuellen Zustand als gegeben hinnehmen – das Risiko besteht, dass schwächere Zustände als normal festgelegt werden.
  • Der Eindruck, „wir haben doch schon so viel Schlimmes erlebt“ darf nicht dazu führen, dass Veränderungen als unvermeidbar gelten – denn das ist Teil der verschobenen Baseline-Logik.

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