Das Overton-Fenster
Das Overton-Fenster bezeichnet die Grenzen des Sagbaren und wird auch manchmal als “Meinungskorridor” bezeichnet. Im Englischen als Overton-Window bezeichnet und nach dem Begründer der Theorie, Joseph P. Overton benannt, ist es ein Modell, um zu verstehen, wie sich Ideen in der Gesellschaft im Laufe der Zeit verändern und die Politik beeinflussen.
Es ist nicht direkt eine Taktik der Desinformation, jedoch ist die bewusste Verschiebung des Fensters, um eigene, menschenfeindliche Inhalte salonfähig zu machen, eines der wichtigsten und mächtigsten Werkzeuge der neuen Rechten.
Wie funktioniert es?
Im gesellschaftlichen und politischen Diskurs gibt es immer ein Spektrum von Positionen und Meinungen, die zu einer bestimmten Zeit akzeptabel sind: Von den theoretisch möglichen Meinungen, die von “undenkbar” auf der einen Seite, über “sinnvoll” und “populär” und wiederum über “noch akzeptabel” und “radikal” bis zu undenkbaren Positionen auf der anderen Seite reichen, zeigt das Overton-Fenster immer den Ausschnitt, der zur Zeit gesellschaftlich akzeptabel ist.
Gesellschaftlich akzeptabel bedeutet in dem Zusammenhang, dass die im Fenster liegenden Positionen von der Politik aufgegriffen werden können und dabei von der Gesellschaft weithin als legitime Positionen akzeptiert werden. Greift die Politik hingegen Positionen auf, die außerhalb des Overton-Fensters liegen, läuft sie Gefahr, die Unterstützung der Bevölkerung zu verlieren, weil die Ideen außerhalb des Fensters als zu extrem angesehen werden.
Dieser These nach muss sich also zuerst das “Fenster des Sagbaren” verschieben, bevor Politik greift, die auf außerhalb liegenden Positionen beruht.
Ein Beispiel
Das Overton-Fenster verschiebt sich normalerweise im Laufe der Zeit langsam durch die gesellschaftliche Entwicklung. Ein gutes Beispiel ist die Prohibition in den USA von 1920 bis 1933: Das landesweite Verbot der Herstellung, des Transports und des Verkaufs von Alkohol konnte zu der damaligen Zeit problemlos durchgesetzt werden, es fand sich in der Bevölkerung genügend Unterstützung.
Dies zeigt, dass ein solches Verbot damals innerhalb des Overton-Fensters lag. Heutzutage wäre dieses Verbot undenkbar, es liegt außerhalb des Fensters, und Politiker*innen, die die Idee aufgreifen, würden an Ansehen verlieren.
Was macht die Verschiebung so gefährlich?
Zu einer Desinformationstechnik wird die Verschiebung dieses Fensters, wenn sie menschenfeindliche Inhalte salonfähig machen soll.
Anmerkung: Eine Verschiebung kann auch in eine positive Richtung erfolgen, zum Beispiel bei Diskursen um individuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Wir beschäftigen uns hier mit der bewussten Verschiebung mit dem Ziel, Ideologien der Ungleichwertigkeit in den akzeptablen Bereich zu rücken.
Es beginnt mit einer Äußerung, die allgemeine Empörung hervorruft. Das kann auch ein bestimmter Begriff wie “Remigration” sein. Permanente Wiederholung, beispielsweise durch Einschleusen in quasi offizielle Zusammenhänge wie Talkshows oder Wahlkampfreden, trägt zu einer Gewöhnung bei, bis der Begriff mit seinem transportierten Inhalt plötzlich nicht mehr undenkbar ist, denn er wird ja ständig nicht nur gedacht, sondern auch ausgesprochen.
Damit wird er von “undenkbar” in den Bereich des “Radikalen” verschoben, mit den entsprechenden Konnotationen und Assoziationen im Positiven und im Negativen.
Eine radikale Idee kann – anders als eine undenkbare – je nach eigenem Standpunkt auch als provokant, irritierend oder erfrischend unkonventionell bezeichnet werden. Damit wurde sie in den diskussionswürdigen Teil des politischen Framings bewegt und wird inhaltlich diskutiert: “Was bedeutet Remigration eigentlich?”, “Kann man Remigration auch anders verstehen”, “Remigration ist hier anders gemeint”, und so weiter.
Häufig wird die Verschiebung des Fensters auch damit entschuldigt, es handle sich um ein Missverständnis oder ein Missgeschick, wie seinerzeit die Erklärung von Beatrix von Storch, sie seie “mausgerutscht”.
Andere Äußerungen aus Kreisen der AfD, zu “Kopftuchmädchen und alimentierten Messermännern” (Zitat Alice Weidel) oder die NS-Zeit als “Vogelschiss” in der deutschen Geschichte zu bezeichnen (Zitat Alexander Gauland) sind ebenfalls bewusste Strategien, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Sie lagen weit außerhalb des Overton-Fensters und wurden und werden bis heute, Jahre danach diskutiert.
Rechtspopulisten setzen bewusst auf solche Tabubrüche, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Rassistische oder antisemitische Aussagen werden zunächst als “missverständlich” oder “Tabubruch gegen die Meinungsdiktatur” dargestellt, um sie in den Diskurs einzuführen.
Durch die geschaffene Aufmerksamkeit werden die “unsagbaren” Positionen jedoch nun ständig “gesagt”, sie tauchen in Schlagzeilen und Talkshows auf; das Overton-Fenster hat sich in Richtung des zuvor Undenkbaren verschoben.
Warum ist sie so erfolgreich?
Die neuen Rechten nutzen die Verschiebung des Overton-Fensters gezielt, um ihre Ideologie salonfähig zu machen. Sie ist eine Schlüsselstrategie für ihren Erfolg, weil sie gesellschaftliche Akzeptanz für Ideen schafft, die einst als untragbar galten. Durch die oben beschriebene schrittweise Normalisierung und mediale Verstärkung gewinnen sie gesellschaftlichen Einfluss, verändern politische Debatten und verschieben langfristig den politischen Konsens nach rechts.
Aus dem Bereich der Verhandlungen kennt man die “Door in the Face”-Technik: Man beginnt mit einer möglichst großen, vielleicht sogar als unverschämt empfundenen Forderung und trifft sich mit der anderen Seite dann in der Mitte. Die “Mitte” ist aber kein statischer Punkt, sondern sie verschiebt sich mit dem Fenster. Dogwhistling kann hierbei zum Einsatz kommen, mit allen Konsequenzen, die diese Technik mit sich bringt (Verunsicherung und Lächerlichmachen von Kritik, Insider-Kommunikation).
Auch die “Foot in the Door”-Taktik, mit kleinen, zunächst akzeptablen Forderungen zu beginnen, um ein Ablehnen der folgenden, größeren Forderungen zu erschweren, ist eine Strategie, das Fenster weiter in die gewünschte Richtung zu dehnen. Auf der politischen Bühne sehen wir eine ähnliche Strategie momentan im Thüringischen Landtag, wo die AfD nach vergangenen, kleineren Zugeständnissen, nun schrittweise mehr Einfluss fordert.
Konservative Parteien spielen eine zentrale Rolle bei der Verschiebung des Overton-Fensters und können die neuen Rechten entweder bewusst oder unbewusst unterstützen. Ihre Gefährlichkeit liegt vor allem darin, dass sie als Brücke zwischen dem politischen Mainstream und rechtsextremen Ideen dienen können.
Um Wähler nicht an die neue Rechte zu verlieren, übernehmen konservative Parteien zunehmend deren Sprache und Themen. Begriffe wie die erwähnte, rechtsextrem geprägte “Remigration” werden von konservativen Politikern verwendet, was ihnen Legitimität verleiht. Migration, Identität und “nationale Souveränität” werden als zentrale Themen betont, auch wenn sie zuvor nur in rechten Kreisen relevant waren.
Hier greift dann zusätzlich noch ein Rechtsverschiebungs-Paradoxon: Wenn eine konservative Partei Positionen einer rechtspopulistischen oder extrem rechten Partei übernimmt, verliert sie oft an Glaubwürdigkeit, während die Wähler eher zur “authentischen” Originalpartei abwandern. Das kann dazu führen, dass die gemäßigte Partei Stimmen verliert, während die extreme Partei weiter erstarkt; dies hat sich in der Praxis oft genug bestätigt. Zusätzlich zu dem Gewinn der Rechten durch das verschobene Overton-Fenster kommt hier noch der potenzielle Schaden durch diesen Effekt.
Gleichzeitig wird mit diesen Themen, deren Diskussion nur mit dem Ziel angefeuert wird, das Overton-Fenster zu verschieben, von anderen Problemen abgelenkt, für die die Rechtspopulisten keine Lösung haben. Dies erleichtert den Wahlkampf durch konsequente Vermeidung heikler, aber wichtiger Themen erheblich und bringt rechten Parteien entsprechende Gewinne ein.
Durch lautes, oft durch Medien überproportional verstärktes “Brüllen” durch das nun weiter geöffnete Overton-Fenster nötigen sie die anderen, besonders die konservativen Parteien, auf ihre Phantomdiskussionen einzugehen und den Wahlkampf an ihren Themen auszurichten.
Wie begegnen wir der Verschiebung?
Da die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren unter Zuhilfenahme von (Massen)medien und Plattformen vorgenommen wird, hinter denen fast unbegrenzte Ressourcen stehen, ist es kaum möglich, den Prozess als Einzelne*r aufzuhalten. Die primäre Verantwortung liegt hier bei den Medien, ihren Vertretenden und all jenen mit Reichweite und Publikum.
Was wir als Nutzer*innen tun können: Sensibilität für diese Grenzverschiebung entwickeln und diese auch bei anderen wecken. Dabei hilft es, Diskurse aufmerksam zu beobachten, Augenmerk auf verwendete Worte zu legen und in Diskussionen darüber aufzuklären, welche Reaktionen bestimmte Worte oder Inhalte vor einer gewissen Zeit noch hervorgerufen haben.
Es gibt keine spezielle Strategie gegen die Verschiebung des Overton-Fensters, aber auch hier gilt der generelle Rat: Wenn ein Versuch des Derailings auffällt, sollte man diesen benennen und als solchen entlarven. Wenn offensichtlich Begriffe von außerhalb des Fensters in Diskussionen Eingang finden, kann man dies ebenso aufzeigen (“Remigration” ist nichts anderes als “Deportation”).
Im Zweifel sollte man eine Diskussion lieber mit Anstand und Hinweis auf humanistische Grundwerte verlassen, bevor diese durch Endlos-Kommentarthreads o.Ä. noch mehr Aufmerksamkeit erhält.

Dir hat der Artikel gefallen?
Zur Durchführung von „The Facts Project“ erhalten wir keine Förderung oder Gelder aus öffentlichen Mitteln. Druckkosten, Honorare und Dienstleistungen der Medienschaffenden müssen mit den bestehenden Geldern der Organisation finanziert werden. Wir sind daher auf eure Spenden angewiesen.
„Der goldene Aluhut“ ist eine gemeinnützige Organisation.
Um uns zu unterstützen, und uns somit die Aufrechterhaltung unserer Arbeit zu ermöglichen, nutze bitte unser PayPal-Spendenkonto (oder sende deine Spende direkt an: spenden@dergoldenealuhut.de).
Spenden bis 300€ bedürfen keiner Spendenquittung. Bei Beträgen ab 300€ kontaktiert uns bitte für eine Spendenquittung.
Ihr könnt uns auch mit einer Steadymitgliedschaft unterstützen:
https://steadyhq.com/de/aluhut/
Für Steadymitgliedschaften können keine Spendenquittungen ausgestellt werden.